Schnellboot S 63 – ein neues Waffensystem

Wir sind sehr glücklich, einen ganz besonderen Gastautor gewonnen zu haben: Jochen Reibnitz war der erste Kommandant von S 63. Auf unserer Homepage veröffentlicht er jetzt seine persönlichen Erinnerungen an Indienststellung und Einsatz 1976 – 1977, die er für das Crewbuch der Crew IV/61 verfasst hat. Die wunderbaren Bilder steuerte Michael Scheer bei, Ari-Maat der Erstbesatzung, der mit viel Herzblut die Internetseite Freundeskreis 2. Schnellbootgeschwader betreibt.

Von Jochen Reibnitz

„Der beste Schutz gegen die Kälte ist der Eispanzer auf der nackten Brust des Schnellbootfahrers“. Dieser natürlich markig-spassige Ausspruch kursierte über Jahrzehnte in der Schnellbootflottille und charakterisierte das harte Leben, das insbesondere das Personal auf der offenen Brücke der Schnellboote zu ertragen hatte. Es war Wind und Wetter mehr oder minder schutzlos ausgesetzt. Hinzu kam, dass die Boote nach dem sog. Ein-Wachensystem besetzt und gefahren wurden, also keine Ablösung auf den einzelnen Posten stattfand, unabhängig von der Einsatzdauer!

Dieser Zustand hatte sich mit dem Bau und Zulauf der Schnellboote 148, „Tiger“-Klasse ab 1974 mit einer geschlossenen Brücke bereits wesentlich gebessert. Das neue Waffensystem der Schnellboote 143, „Albatros“-Klasse, Zulauf ab 1976, war aber darüber hinaus ein Quantensprung in Hinsicht auf das Führungssystem und die Bewaffnung. Es war die Zeit, in der die Deutsche Marine endgültig den Sprung von analoger zur Digital-Technik vollzog.


Um das zu verdeutlichen, sollen hier nur einige Einzelheiten erwähnt werden:

Technische Daten

  • Verdrängung: ca. 400 ts,
  • Länge: 57,60 m
  • Breite: 7,80 m
  • Tiefgang: 2,60 m.
  • Damit fast doppelt so groß wie die früheren Schnellboote der Klassen 141 und 142, bedingt durch den erhöhten Raumbedarf für die Flugkörper und Rohrartillerie.
  • Geschwindigkeit: ca. 38 kn.

Bewaffnung

  • 2 OTO Melara 76 mm Geschütze, unbemannt, Beladung direkt in der Munitionskammer.
  • 4 Starter für Seeziel-Flugkörper MM 38 Exocet.
  • 2 Torpedorohre 533TR am Heck für je einen Torpedo DM 2 A1 „Seeaal“, drahtgelenkt.
  • Führungssystem: Automatisches Gefechts-Informationssystem, AGIS mit integriertem Seeraumüberwachungs- und Luftzielfolgeradar als Sensor. Dazu ein eigenständiges Navigationsradar. Wesentliche Neuheit für Schnellboote – und mit Ausnahme der drei „Lütjens“-Zerstörer – auch für die gesamte Marine war die Link 11-Komponente, die die Lagebildübertragung und die zentrale, koordinierte Steuerung des Waffeneinsatzes im Verband in Echtzeit ermöglichte. Auch dieses ein Quantensprung.
  • Personal: Wie schon die früheren Boote der Flottille hatte diese neue Klasse trotz deutlich erhöhter Kampfkraft eine Besatzungsstärke von nur 40 Soldaten.


Das Einwachensystem wurde beibehalten. In Hinsicht auf die Verwendungsreihen, damals noch Ausbildungsreihen, war aber eine deutliche Verlagerung weg von den Seeleuten, „11er“ genannt, hin zu den sogenannten „Bedienern“, damals Reihe 37, notwendig geworden. AGIS erforderte allein sechs speziell ausgebildete Unteroffiziere für die Konsolen des Systems unter der Führung eines Bootsmanns. Größe des Bootes, die aufgrund der Bewaffnung und der notwendig gewordenen Operationszentrale (OPZ) im Vergleich anderen Schnellbootklassen deutlich zugenommen hatte sowie qualitative Veränderung der Struktur der Besatzung hatten auch zur Folge, daß der Kommandant der Boote Klasse 143 als Stabsoffizier (KKpt, A 13) ausgeworfen war.

Ich hatte das Glück, am 02. Juni 1976 mit S 63 das zweite Boot dieser Klasse in Bremen-Vegesack bei der Lürssen-Werft in Dienst stellen zu dürfen. Als erster Kommandant hatte ich eine Besatzung, mit der es eine Freude war, dieses neue Waffensystem zu fahren. Nach Lehrgängen sowohl an den Schulen der Marine als auch bei der Industrie und schließlich bei der Werft waren alle Soldaten so gut und umfassend ausgebildet, wie wohl keine der Folgebesatzungen nachher. Ich erinnere mich, dass die Marine damals der personellen Besetzung dieser Boote höchste Priorität zugewiesen hatte.

Und wir hatten durch einen weiteren Umstand die Möglichkeit, das neue Boot S 63 im wahrsten Sinn des Wortes umfassend „zu erfahren“. S 62, das von unserem Crewkameraden Lothar Brügge einige Wochen zuvor (13.04.1976) in Dienst gestellt worden war, wurde bis zu diesem Datum durch eine zivile Besatzung der Erprobungsstelle 71 zu Funktionstests gefahren.

Dieses Vorgehen war auch für S 63 geplant, konnte aus Personalmangel bei der Erprobungsstelle jedoch nicht umgesetzt werden. Da mit der militärischen Erstbesatzung eine komplette und voll ausgebildete Besatzung „in den Startlöchern“ stand, bot die Marine an, diese als Fahrmannschaft einzusetzen. Dieser Vorschlag wurde, obwohl äußerst ungewöhnlich, genehmigt. Denn damit führte ein Marineoffizier ohne ziviles Patent ein Schiff, das bis zur Indienststellung quasi ein Handelschiff war.

Auf diese Weise wurden wir nach Weisung des Generalunternehmers und der Werft eingesetzt und fuhren von Bremen-Vegesack aus zahlreiche Versuche, meistens im Seegebiet um Helgoland. Dabei konnten wir den zivilen Spezialisten der verschiedenen Komponentenhersteller und dem Güteprüfdienst des BWB über die Schulter schauen, unsere Kenntnisse vertiefen und unschätzbare Erfahrungen in der Bedienung, bei der Störungsbeseitigung und im Einsatz der Waffen und der schiffstechnischen Anlagen schon vor der Indienststellung sammeln.

Heiß Flagge und Wimpel!

Das Zeremoniell der Indienststellung war festgelegt. Es sollte direkt nach der Zustimmung der Übernahmekommission stattfinden. Es ist mir in Erinnerung geblieben, dass die Kommission, der Vertreter des Generalunternehmers, der Werft, des BWB und der Marine angehörten, am Vormittag des 02. Juni 1976 tagte, sich aus mir damals unbekannten Gründen jedoch nicht sofort auf die Übernahme verständigen konnte. So mußten die ebenfalls angetretenen und in der Baubelehrung befindlichen Besatzungen von S 64 und S 65 sowie das Heeresmusikkorps und angereiste Gäste mehrfach wieder auseinandertreten und sich über zusätzliche Musikstücke des Musikkorps erfreuen, bis das Zeremoniell endlich begonnen werden konnte.

Es endete mit dem traditionellen Befehl des Kommandanten „Heiß Flagge und Wimpel!“ und war für mich sicher der unvergesslichste Augenblick in meiner Marinelaufbahn. S 63 und seine Schwesterboote gehörten zu diesem Zeitpunkt zu den fortschrittlichsten und modernsten Waffensystemen ihrer Art nicht nur in der Deutschen Marine sondern weltweit!

Bereits am nächsten Morgen gegen 06 Uhr war das Auslaufen befohlen. Wir verlegten von der Lesum ins Marinearsenal nach Wilhelmshaven, wo Waffen- und Fernmeldekomponenten installiert wurden, die der Geheimhaltung unterlagen. Danach blieben uns nur einige wenige Tage, um in der deutschen Bucht Einzelausbildung durchzuführen. Besonders die Notrollen mußten gedrillt werden, bevor die Verlegung durch den Nord-Ostsee-Kanal nach Olpenitz, unserem Heimathafen, begonnen werden konnte. Hier wurden wir mit einem großen Aufgebot empfangen.

Hatten wir gedacht, daß nun der „Alltag“ mit Einzelausbildung beginnen und wir uns auf die Einsatzbesichtigung durch Geschwaderführung und Flottille vobereiten konnten, so sahen wir uns getäuscht. Das moderne Waffensystem Klasse 143 lockte viele hochrangige internationale Vertreter nach Olpenitz. S 62 und S 63 machten fast täglich seeklar, um sich zuerst mit einem Vortrag zur Einführung an der Pier gefolgt von einer Präsentation inklusive einem Funktionsschuß mit dem Geschütz in der Kieler Bucht zu präsentieren. Das erforderte natürlich von der gesamten Besatzung stets sauberes und korrektes Auftreten, viel Zeremoniell und immer wieder „Reinschiff“. Die 1. Garnitur Blau war mehr oder weniger Tagesanzug! Dieser Zustand änderte sich nur geringfügig, als S 64 als drittes Boot nach Indienststellung am 14.08.76 nach Olpenitz verlegte. Das Interesse der VIP war enorm.

Weitere Besonderheiten ergaben sich aus den notwendigen Prüfabschnitten, die auf die Boote zukamen:

  • magnetische Vermessung mit Entmagnetisierung, die S 63 bei der Erprobungsstelle 71 in Schirnau bei Rendsburg vornahm,
  • Erstellung der Deviationstabelle für den Magnetkompass,
  • Funktionsschießen gegen See- und Luftziele in den Schießgebieten Kieler Bucht und Todendorf für das Kommando Truppenversuche,
  • Meßfahrten in der Meile in der Eckernförder Bucht vor Waabs und vieles mehr.
  • Parallel dazu aber immer wieder Seefahrten und Vorführungen mit VIP.

Erstbesatzung 1976

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Der damalige I WO, KptLt Rainer Feist „erklärt“ dem Dirigenten des Heeresmusikkorps die Musik.

Frischwassermisere

Aber es war nicht alles zur vollkommenen Zufriedenheit: ich erinnere mich an die sog. „Frischwassermisere“, die bei allen Booten zu außerplanmäßigen Werftaufenthalten führte. Das Frischwassersystem enthielt Keime, die mit den sonst üblichen Mitteln nicht beseitigt werden konnten. Es wurde notwendig, alle Leitungen auszutauschen, die Zellen zu desinfizieren und von innen zu beschichten. Eine von allen als sehr missliche Situation empfunden! Aber die Hygiene machte es erforderlich.

Die Garantiewerftliegezeit nach ca. sechs Monaten erforderte eine weitere Verlegung nach Bremen. Auch wenn sie nicht viel Zeit in Anspruch nahm, so unterbrach sie doch den Alltag im Geschwader.

Eine weitere Besonderheit wurde mit der Einführung des Waffensystems 143 in der Marine eingeführt: die Systemunterstützungsgruppe, SUG. Diese Gruppe bestand aus besonders geschultem Personal für die Instandsetzung in allen Bereichen und war dem Geschwaderstab zugeordnet. Sie sorgte dafür, daß nicht nur im Heimathafen sondern z.B. auch bei Manövern in anderen Gewässern während der Ruhephasen der Besatzung Reparaturen rasch vorgenommen wurden. Dazu war die SUG auf einem Tender eingeschifft und hatte Zugriff auf die dort zentral gelagerten Ersatzteile. Die Vorteile dieser Regelung lagen auf der Hand: Personaleinsparung bei den Spezialisten, Optimierung der Ersatzteilbevorratung und, ganz wesentlich, durch das Geschwader selbst bestimmte Steuerung notwendiger Reparaturen. Die Abhängigkeit von früher noch erforderlichen zivilen Kapazitäten des Marinearsenals oder der Industrie wurde verringert.

Für uns Kommandanten ergab sich eine direkte Verbesserung der Einsatzbereitschaft der Boote, denn wir konnten den Ausfall von Systemkomponenten ohne großen administrativen Aufwand direkt bei der SUG melden und Fehlersuche sowie -beseitigung beantragen. Nach dem Einlaufen im Heimathafen oder nach dem Festmachen am Tender kam das Personal der SUG ohne Verzug an Bord und begann mit Fehlersuche und -beseitigung.

Stadt Herne als Patenstadt

Neben den rein dienstlichen Einsätzen kam auch der Pflege der Patenschaften in der Marine eine Bedeutung zu. Stichworte dazu sind Öffentlichkeitsarbeit und Nachwuchsgewinnung. S 63 hatte von seinem „Quasi-Vorgänger“, dem Schnellboot Geier, die Stadt Herne als Patenstadt übernommen. Zur offiziellen Übernahme der Patenschaft durch die Stadt fuhr ich mit einer Abordnung nach Herne. Höhepunkte dieses Besuchs waren für mich die Ehre, vor dem Stadtrat zu reden und an den eigens organisierten Feiern teilzunehmen. Für den Rest der Abordnung waren sicherlich die mehr zwischenmenschlichen Kontakte und die diversen Besuche der örtlichen Gaststätten wichtig. Gemeinsam jedoch war für alle die Feststellung auf der Rückfahrt, daß der Besuch „anstrengend“ gewesen war.

Die Gegenbesuche, meist unter der Führung des Oberbürgermeisters, waren ebenso fordernd. Die Abordnungen der Stadt und der Marinekameradschaft hatten stets „hochgeistige“ Getränke im Gepäck, die natürlich konsumiert werden mußten.

Im Verlauf des Jahres 1976 wurden nach S 62 und S 63 fünf weitere Boote Klasse 143 in Dienst gestellt. Im März 1977 folgte ein weiteres Boot, so daß im Juni des Jahres bereits acht Boote ihre Einsatzfähigkeit erreichen und am Flugkörper-Schießen mit dem Seeziel-FK MM 83 Exocet in Frankreich teilnehmen konnten. Das Schießen war Teil des Funktionsnachweises des Waffensystems. Dazu verlegte das Geschwader zusammen mit den Tendern Elbe und Donau sowie dem Troßschiff Lüneburg, das die speziellen Telemetrie-Flugkörper an Bord hatte, über Chatham an der Mündung des Medway (Kent) zunächst nach Portland am Ärmelkanal (Dorset), wo der Flag Officer Sea Training, FOST an Bord kam. Von hier verlegte der Verband weiter in die westfranzösische Hafenstadt La Rochelle.

In Abhängigkeit von Wetter und Tidenstand liefen die Boote früh aus, um vor der Biskaya-Küste für den FK-Schuß und zur Absicherung in Position zu sein. Schießende Einheit war S 62. Das Schießgebiet war an Land mit optischen Vermessungsgeräten und Radars zur Überwachung versehen und erstreckte sich in Nord-Süd Richtung.

Für S 63 war die Teilnahme an diesem Schießen leider etwas frustrierend, da das Boot wegen Ausfalls von Gerät und wegen Abgabe von notwendigen Ersatzteilen an das schießende Boot mehr oder weniger „blind“ war und deshalb nur wenig beitragen konnte. Wir wurden daher zur Absicherung weit an den Südzipfel des Schießgebietes beordert. Das bedeutete sowohl An- und Abmarsch von jeweils mehr als 30 sm täglich und Teilhabe am Geschehen nur über HF-Funksprüche. Dafür aber war das Wetter hier kurz vor der spanischen Küste traumhaft. Die Besatzung genoß es!

Nach dem erfolgreichen Abschluß dieses Teils des Funktionsnachweises verlegte das Geschwader zurück über Lorient nach Olpenitz.

Leider neigte sich meine Zeit als Kommandant aber auch ihrem Ende zu. Die Personalabteilung hatte dieser Verwendung nur mit einer zeitlichen Begrenzung auf zwei Jahre zugestimmt, weil vorgesehen war, daß ich im Anschluß an der Marinewaffenschule AGIS-Techniker ausbilden sollte. So übergab ich das Kommando schweren Herzens Ende September 1977 an meinen Crewkameraden Erhard (Ole) Matthiessen. Einziger Trost blieb, daß ich dem Waffensystem und dem Geschwader in dieser Funktion auch weiterhin verbunden bleiben konnte.

Als 1979 im 2. Schnellbootgeschwader ein Engpaß bei den Kommandanten auftrat, wurde ich im Zeitraum 01. April bis 06. Juli noch einmal „reaktiviert“ und fuhr S 66 bis zur Übergabe an meinen ehemaligen I WO auf S 63 Rainer Feist.

In der Rückschau war meine Verwendung als erster Kommandant des Schnellbootes S 63 ein Höhepunkt in meiner Marinelaufbahn

Jochen Reibnitz

Fazit

In der Rückschau war meine Verwendung als erster Kommandant des Schnellbootes S 63 ein Höhepunkt in meiner Marinelaufbahn. Konnte ich doch ein hochmodernes Waffensystem und eine ebenso hochmotivierte Besatzung führen. Wir alle waren zu Recht stolz auf Boot und auf Geschwader. Mit einer guten Ausbildung im Hintergrund und mit viel Engagement hatten wir es geschafft, in sehr kurzer Zeit den Umstieg auf dieses komplexe und fordernde System zu vollziehen.

Zum Verbleib des Bootes

S 63 wurde am 29.09.2005 außer Dienst gestellt und an die tunesische Marine verkauft. Dort fährt es als 507 Himilcon.


Der Beitrag von Jochen Reibnitz ist erschienen in Crewbuch der Crew IV/61 S. 123 ff. In 70 Beiträgen haben Offiziere der Crew IV/61 ein ungemein plastisches Bild ihres Offizierjahrgangs vorgelegt. Das Redaktionsteam unter Führung von Vizeadmiral a.D. Hans Frank hat damit in zwölf thematisch gegliederten Hauptabschnitten den Weg von 157 Offizieranwärtern in ihrer Dienstzeit dargelegt. Interessenten können vielleicht ein Exemplar beim Crew-Sprecher; FKpt a.D. Gerhard Ratzel, Alter Mühlenweg 6, 26419 Schortens, zum Preis von 25 Euro zzgl. 4,80 Euro Versandkosten erwerben.

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